Der Architektur-Genießer-Tipp: Frankfurts „neue Altstadt“

Das Projekt „Neue Altstadt“ hebt Hermann Senfs falsches Schillerzitat auf eine neue, ironische Metaebene, die den Jugendstilarchitekt überrascht hätte. Chapeau!
Bildrechte: Sandra Pappe, www.sandrapappe.de

Liebe Architektur-Gourmets,
von mehreren Seiten wurde ich um eine Expertise zum aktuellen Römerprojekt gebeten. Dem komme ich mit meinem Tipp für den April nach: Allein der in die Umgangssprache übergegangene Titel „neue Altstadt“ verdient einen Wertungspunkt. Leider kommt dann aber auch nicht mehr viel nach.

Ebenso wie bei vergangenen Bauprojekten zur Neugestaltung des Frankfurter Römers fehlt es an der klaren Linie. Die Bauhistorie der Frankfurter Altstadt wird seit mehr als einem halben Jahrhundert von faulen Kompromissen und einer Unentschlossenheit bestimmt, die mehr dem Mief der Provinz als dem Odeur der Großstadt entspricht.

Emotions, emotions: Das Herz wieder beleben

Wo andere Städte ihre kriegszerstörten Altstädte konsequent entweder originalgetreu rekonstruierten oder durch eine Neubebauung ersetzten, votierte Frankfurt erneut für unentschieden. Zugegeben: Viele Aspekte, die die zeitgenössische Baupolitik auszeichnen, wurden in das Projekt eingearbeitet. Rechtspopulismus, Spekulantenförderung, Gleichschaltung der lokalen Presse, Aussitzen von Bürgerprotesten, Kulissenarchitektur, die Verdrängung der Bewohner aus den Innenstädten – alles dabei, was das Füllhorn der architektonischen Regression zu bieten hat, da könnte Frankfurts jüngstes Prestigeprojekt die gesellschaftspolitische Gegenwart nicht besser widerspiegeln.

Aber muss das so blutleer, so steril, so unispiriert sein? Weder Zeit noch Mühe wurden in eine kreative Kampagne gesteckt. Warum auch, wenn es offenbar reicht, OB Wallmanns abgedroschene Sentimentalitäten vom „Herz“ Frankfurts wieder zu beleben. Frankfurts „Mitte“ soll also wieder einmal „den Frankfurtern zurückgegeben“ werden. In Maßen natürlich, nicht so, dass sie den Touristen im Weg herumlungern. Nicht, dass da plötzlich wieder arme Leute, Pöbel oder gar Sozialisten wohnen wollen! Wie vor 1933!

Wie ein Einkaufsbummel durch Wertheim Village

So angestaubt die Kampagne, so nichtssagend die Bebauung. Kerzengerade, sauber und ordentlich ragen die falschen Altbauten in die Höhe. Jeden Moment könnte ein Playmobilmännchen aus der Tür treten. Wie anders als Altstädte, die man aus dem Urlaub im Süden kennt, wo gealterte Holzbalken historische Bauwerke verkrümmt, Flechten und Verwitterung den Putz vielfarbig gemustert und sich in abgetretenen Steinplatten Stolperfallen für Touristen gebildet haben. Dagegen ist der Spaziergang durch die „neue Altstadt“ so sicher wie ein Einkaufsbummel durch Wertheim Village. LAME!

Wertung: Nur zwei von sechs Zirkeln

Kommen wir zur Wertung. Frankfurts „neue Altstadt“ hat, wie schon gesagt, durchaus Ansätze zu bieten, die das Projekt als Spiegel der zeitgenössischen Gesellschaft auszeichnen. Für die Anerkennung als Gesamtkunstwerk scheint mir die Gestaltungshöhe leider nicht erreicht. Obwohl das Bekenntnis zur architektonischen Rückwende eigentlich offensichtlich ist, sabotiert sich die Stadt selbst mit Dementi. Die Versuche der lokalen Presse, kritischen Architekten die fachliche Expertise abzusprechen, hat den Charakter kindlicher Trotzhandlungen und erweist den Urhebern der „neuen Altstadt“ bei der Anerkennung als künstlerisches Werk einen Bärendienst.

Daher leider: Nur zwei von sechs Zirkeln!

Links zum Thema

Bauwelt.de: Ortsbegehung
Offener Brief Arch+: „Wider den modernefeindlichen Architekturpopulismus“
Aufruf Aktion: „Wider den modernefeindlichen Architekturpopulismus“
Stephan Trüby: „Wir haben das Haus am rechten Fleck“
Baumeister: Interview mit Stephan Trüby
Deutschlandfunk: Interview mit Philipp Oswalt
„Da schreiben sich Perspektiven der Rechten ein.“
Frankfurter Rundschau: Interview mit Ernst Ulrich Scheffler
„Die Altstadt ist eine Geschichtsfälschung“

FAZ: Architekten leisten Widerstand gegen eine „Rekonstruktion“ des Schauspielhauses

One thought to “Der Architektur-Genießer-Tipp: Frankfurts „neue Altstadt“”

  1. Dieser „Genießertip“ spricht mir sehr aus dem Herzen, allerdings erscheint mir die Bewertung mit 2 Zirkeln doch eher wohlwollend.

    Zunächst einmal mein Eindruck, als ich das erste Mal aus der U-Bahn-Station gegenüber der Goldenen Waage stieg: Wo bin ich hier gelandet? Und warum und was fotografieren hier alle Anwesenden? Ich bin Architektur-Fotograf und konnte nichts Fotografierenswertes entdecken. Ich fühlte mich wie in einer virtuellen Welt, ist das ernst gemeint? Relativ fassungslos ob der Plastikarchitektur und der vielen knipsenden Menschen drehte ich eine kurze Runde durch diesen architektonischen Offenbarungseid.

    Dann bog ich in die Domstraße ein. Puh, ich atmete förmlich auf, ich hatte den Ausknopf für dieses Computerspiel, das ich nie spielen wollte, gefunden. Hier gibt es echte Häuser, gewachsene Stadt, ebenso an der Nordseite der Braubachstraße, nicht zu vergessen die großartigen postmodernen Häuser der Saalgasse – nach einiger Zeit in der Realität packte ich meine Kamera aus.

    Die Intention dieser synthetisierten Architektur wird in dieser Kritik treffend beschrieben. Dieses „alte Leben, das aus den Ruinen“ entstanden ist und „das Neue stürzt“, verdeutlicht in letzter Konsequenz den Rechtsruck der Gesellschaft, weg von einer für die Einwohner lebenswerten Stadt hin zu einer unbeseelten blutleeren Kulisse für Reiche und Touristen.

    Die meisten Menschen haben das direkte Erleben und Erspüren eines Ortes verlernt. Stattdessen wird die Welt nur noch durch das Handy gesehen, das Gefühl der inneren Leere wird überspielt durch Selfies – „ich habe ein Foto von mir, also bin ich“. An Orten, die mehr sind als nur Kulisse, die eine Seele haben, die man erleben kann, in die man eintauchen kann, verspüren einige Selfisten vermutlich noch (hoffentlich…) ab und zu, daß ihnen irgendetwas entgeht. Doch hier, in der „Neuen Altstadt“ ist auch dieses irritierende Gefühl verschwunden, dieser Ort ist mit einem Selfie perfekt genutzt, ja, dies ist sogar die einzig adäquate Nutzungsmöglichkeit.

    So wie Politik und Presse diese Kulissenarchitektur hochjubeln, scheint genau das auch das politisch Gewollte zu sein: sedierte Menschen, die beglückt neue Selfies ins Netz blasen – natürlich mit Ökostrom und nachhaltig -, die von dieser real existierenden Scheinwelt noch perfider als von virtuellen Computerwelten verführt werden, die Wirklichkeit zu verdrängen und so zu Stimmvieh für konservative Parteien werden.

    Mit Wehmut erinnere ich das Technische Rathaus, ein großartiger Bau des Brutalismus, der diesem Disneyland weichen mußte, aber der war halt nicht Selfietauglich, sondern mußte betrachtet und erfahren werden ohne die eigene Rübe davorzuhalten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.